Im Ärger zum Du — Wem wir im Anderen wirklich begegnen

Gabriel Fehrenbach
SAMU.works
Published in
4 min readAug 31, 2016

--

Jeder gibt sein Bestes, immer.

Wann haben Sie sich das letzte Mal so richtig geärgert, über Ihren Kollegen, eine Teilnehmerin, Ihren Partner?

Gehen Sie zurück in die Situation. Was war passiert? Wann war der Ärger am stärksten? Was hat der Andere getan?

Spüren Sie nach, was Sie so aufgeregt hat. Was sind Ihre Gedanken? Was fühlen Sie? Was, glauben Sie, war der Grund?

Und dann sagen Sie sich: „Er hat sein Bestes gegeben. Er gibt immer sein Bestes.“

Was passiert, wenn Sie diesen Satz sagen?

Wann immer ich diese Übung mache, kann ich die Enge meiner Haltung, das schnelle Urteilen und vor allem die Abwehr spüren. Abwehr gegen das Leben, das gerade schwierig ist, Abwehr gegen die Situation. Sage ich dann „Jeder gibt sein Bestes, immer“, ist das wie ein schmerzhafter Schnitt durch das Dickicht meiner Wahrnehmungen und Urteile. An dem Satz kann ich erkennen, wie offen ich dem Anderen gegenüber bin — oder wie sehr ich ihn für das, was gerade passiert, verurteile und verantwortlich mache.

Es folgt immer dem gleichen Ablauf: Etwas stimmt nicht, wir fühlen uns nicht wohl, die Situation ist nicht, wie wir sie brauchen oder gerne haben. Und sofort suchen wir nach der Ursache. Im Außen, beim Anderen, nicht bei uns selbst. Alleine würde es uns ja gut gehen. Aber mit dem Anderen… Unser Kind ist trotzig, der Mitarbeiter störrisch, die Teilnehmerin unangemessen laut. Das ist doch der Grund, oder?

Die Abwehr schafft Distanz, das Urteil eine Hierarchie. Kommunikation wird zu einem Hebel. Wir benutzen sie, damit der Andere endlich das tut, was wir brauchen.

Doch der Satz „Jeder gibt immer sein Bestes“ dreht die Verhältnisse um.

Dann stehen wir plötzlich vor lauter Fragen: Weshalb ist das so? Was passiert hier gerade? Und vor allem: Weshalb bin ich so verärgert? Was hat das bei mir geweckt? Und was braucht es, damit wir die Situation lösen?

Charlotte Beck hat einmal auf den zentralen Unterschied zwischen Erfahrung und Verhalten hingewiesen: Das eine als das innere, dass unser Handeln hervorbringt, das andere, als das, was wir außen beim Anderen sehen. Es ist immer das eine Leben. Nur, wie wir darauf schauen, bleibt eine Frage des Blickwinkels. Und bei diesem Schauen verwechseln wir die Dinge: „Wie wir selbst, so leben auch andere Menschen einfach in Erfahrung, die wie Verhalten aussieht.“ Wir kennen die Erfahrung des Anderen nicht. Wir können nur sein Handeln erkennen und deuten es als Verhalten, als unveränderliche Züge seines Charakters.

Wenn wir aber von unserer Wertung absehen und den Widerstand gegen die Situation ablegen, können wir ins Gespräch kommen. Können uns die Erfahrung des Anderen wie auch die eigene erschließen. Warum tust Du das, was Du tust? Was ist Deine Erfahrung? Und was macht das mit mir? Aus welcher Erfahrung heraus kommt mein Ärger?

Kommunikation verliert dann alles Manipulative. Sie ist kein Hebel mehr. Sie wird zu einem wirklichen Austausch, der beide verändert. Weil das Fragen Einsichten und neue Erkenntnisse ermöglicht, Vertrauen schafft und einen Raum, in dem wir uns selbst kennenlernen können. Es braucht das Gespräch — ob mit dem Anderen oder mit uns selbst — um unsere Erfahrungen hervorzuholen.

Dadurch gewinnen wir Handlungsfähigkeit. Denn es bleibt dabei: Eine Situation, die für uns schwierig ist, wollen wir ändern. Nur, ist der Andere die Ursache der Misere, ist die einzige Lösung, dass er sich ändert. Wie aber reagieren Sie, wenn Sie jemand auffordert, dass Sie sich ändern sollen? Hören Sie seinen Wunsch nach Lösung? Oder spüren Sie vielmehr das Urteil, dass da mitschwingt, die Distanz, die Abwehr?

Wenn wir den Anderen verantwortlich machen, legen wir die Hände in den Schoß. Die Frage hingegen, was die Situation braucht, um sie zu ändern, eröffnet uns so viele Gelegenheiten, uns einzubringen, Impulse zu setzen, Veränderungen anzustoßen. Und sie stellt uns selbst in Frage: was kann ich tun, um die Lage zu verändern? Wie gehe ich mit meinen Erfahrungen um? Wie kann ich meine Sicht ändern?

Machen wir ein weitere Übung: Wann haben Sie sich das letzte Mal über sich selbst geärgert? Wie war die Konstellation? Was ist passiert? Was hat Sie so an sich selbst geärgert? Gehen Sie in diese Wut hinein und sagen Sie sich dann: „Auch ich gebe mein Bestes, immer.“ Was passiert?

Gelingt uns der Satz? Können wir uns selbst soviel Achtung und Wertschätzung entgegenbringen? Können wir uns der eigenen Erfahrung, dem Schmerz, der Wut, der Trauer, die da durchscheinen mag, öffnen? Können wir uns fragen, was wir brauchen, um das Leben gerade gut zu meistern? Und: Können wir uns das verzeihen, was uns nicht so gut gelingt?

„Jeder gibt immer sein Bestes“, darin steckt eine ganze Schule des Lebens. Dabei gilt stets: Wenn wir uns in der Selbstachtung üben, gelingt uns die Achtung der Anderen von ganz allein.

Mehr lesen?
Mit uns selbst arbeiten -
Meditationen über unsere Aufgabe als Moderator und Facilitatorin:

(1) Dasein für Andere - Wie wir in unserer Präsens Raum schaffen
(2) Das Andere im Eigenen - Wie wir uns fremden Stimmen begegn begebn begegnen können

--

--

Founder of SAMU. Organizational Developer, working on #regenerative Business | Gründer von SAMU — arbeitet an einer regenerativen Gesellschaft